Manne1

ausgerechnet Sisselsheim

Leseprobe

 

Manne wickelte ihre letzte Tasse in Zeitungspapier, um sie in den Umzugskarton neben ihrem Küchentisch zu packen, als es plötzlich klingelte.

"Wer will denn so spät noch ..." murmelte sie, während sie die Tasse in den nächstbesten Karton stopfte. Vielleicht hatte die junge Frau von nebenan ihren Müll hinuntergebracht und dabei die Tür ins Schloss gezogen. Sicherheitshalber zog sie ein sauberes Hemd über das verschwitzte T-Shirt und fuhr mit beiden Händen durch die schnörkellose Kurzhaarfrisur, bevor sie zur Wohnungstür ging. 

"Ja bitte?", meldete sie sich durch die Gegensprechanlage, während sie ihr Hemd zuknöpfte.

"Stör ich, oder kann ich kurz hochkommen?", tönte die Stimme ihrer jüngeren Kollegin Anja aus dem winzigen Lautsprecher.

"Du störst nie", antwortete Manne, während sie den Türöffner betätigte und das Treppenlicht einschaltete. Im Lauf der Jahre war sie so etwas wie ihre beste Freundin geworden, die sie im Notfall sogar um Mitternacht noch aus dem Bett klingeln durfte, aber in den Sommerferien sollte es eigentlich keine Notfälle geben.

"Alles okay?", fragte sie, als Anjas Gesicht über dem Treppenabsatz auftauchte.

"Bei uns ist alles in Ordnung. Und wie sieht es bei dir aus?"

"Alles bestens."

"Weißt du inzwischen schon, wo du ..." Sie folgte Manne in die Wohnung und nahm Kurs auf das Wohnzimmer. Auf der Schwelle blieb sie plötzlich stehen. "Wo sind denn deine ganzen Möbel?"

"Verkauft, verschenkt oder in den Müll geworfen. Komm mit in die Küche, da ist noch fast alles beim Alten."

"Ich komme gleich." Während Manne den Wasserkocher füllte, wanderte Anja durch alle Räume, als müsse sie sich davon überzeugen, dass sich ihre Freundin keinen Scherz mit ihr erlaubt hatte.

Als das Wasser im Kocher zu summen anfing, fischte Manne zwei Tassen aus dem Karton. "Kaffee oder Tee? Ich hab aber nur noch löslichen Kaffee und keine Milch mehr da."

"Lieber Tee", tönte Anjas Antwort aus dem Schlafzimmer.

"Okay." Manne kramte in der Kiste, die unter einem offenen Schrank stand. "Schwarzen Tee, Pfefferminztee oder ...?"

"Ich trink dasselbe wie du", unterbrach Anja die Aufzählung. "Jetzt sag schon, wo deine Sachen geblieben sind."

"Weg." Manne hängte in jeden Becher einen Teebeutel und goss Wasser darüber.

"Echt jetzt? Dein Wohnzimmer ..."

"... hat das Sozialkaufhaus genommen, genau wie meine Klamotten und das Geschirr. Den Bücherschrank und meinen Schreibtisch hat ein holländischer Antiquitätenhändler gekauft. Ich hab mich echt gewundert, wie viel Geld er dafür bezahlt hat."

"Und deine vielen Bücher? Deine DVDs? Deine CDs?"

"Verkauft, verschenkt oder weggeworfen", wiederholte Manne. "Wenn sie nicht in einem der sieben Kartons sind, die ich mit in mein neues Leben nehme." Sie schob einen der Becher zu Anja hinüber. "Magst du Zucker?"

Anja schnupperte an dem tiefroten Gebräu. "Apfeltee?"

Manne nickte. "Jasmin hat mir ein Päckchen aus der Türkei mitgebracht."

"Dann brauch ich keinen Zucker." Schweigend rührten sie in ihren Tassen, doch Anja konnte die Stille offenbar schon nach zwei Minuten nicht mehr ertragen. "Wie geht es jetzt weiter? Du wolltest die Wohnung doch untervermieten und nächstes Jahr zurückkommen."

"Wie du siehst, habe ich meine Pläne geändert. Ich habe eine Nachmieterin gesucht, meine Wohnung ausgemistet und alles, was ich unbedingt behalten will, in sieben Kisten gepackt."

"Nur sieben Kisten?" Anja war immer noch fassungslos.

"Sieben Kisten, meinen Lieblingssessel, meinen Futon und eine Tasche mit meinem Bettzeug. Mehr brauche ich nicht." Sie pustete den Dampf von der Oberfläche ihres Tees und nippte vorsichtig daran. Natürlich war er noch immer zu heiß zum Trinken. "Genau genommen hätte ich nicht mal meinen Sessel mitnehmen müssen, aber ein bisschen Sentimentalität leiste ich mir einfach."

"Und was wird aus deiner Motorrad-Reise? Du wolltest doch einen Platz finden, an dem du in Ruhe alt werden kannst."

"Dieser Platz hat mich gefunden. Ich ziehe zu meiner Tochter."

"Wie bist du denn auf die Idee gekommen?" 

"Julia ist auf die Idee gekommen. In ihrem Haus gibt es eine schicke kleine Einliegerwohnung, die mit allem ausgestattet ist, was ein Mensch braucht. Bis vor einem halben Jahr hat ihr Schwiegervater darin gewohnt, aber der ist Ende Januar gestorben, seitdem steht sie leer. Julia hat mich gefragt, ob ich nicht bei ihr einziehen will."

"Ich dachte, du und Julia ..." Hilflos zog Anja die Schultern hoch. Offenbar wusste sie nicht, wie sie den angefangenen Satz beenden sollte.

"Wir haben nicht das beste Verhältnis zueinander", half Manne aus. "Aber das wird sich ändern. Ich bin vor über dreißig Jahren nach Köln gekommen, weil ich den Kleinstadtmief nicht mehr ertragen konnte. Julia ist bei meinen Eltern geblieben, weil sie um keinen Preis der Welt in einer Großstadt wohnen wollte. Das waren vermutlich nicht die besten Voraussetzungen für ein gutes Verhältnis, aber ich wäre in Sisselsheim zugrunde gegangen und sie in Köln."

"Und jetzt willst du da hinziehen?" Anja schüttelte den Kopf. "Ich wette einen Schokobecher im teuersten Eiscafé der Stadt gegen einen Milchshake bei der Bude am Bahnhof, dass du spätestens in einem Jahr wieder in Köln und an der Herbert-Reichmeyer bist. Ausgerechnet Sisselshausen ..."

"Sisselsheim", verbesserte Manne sie. "Es heißt Sisselsheim und ist ein nettes Städtchen im Dunnbergkreis mit Supermärkten, Ärzten, Apotheken, einem Krankenhaus, Metzgereien, Bäckereien, einem Drogeriemarkt, einem Schuhgeschäft, einigen Kneipen und einer Boutique. Verglichen mit Köln, ist dort alles so günstig, dass ich es mir leisten kann, meine Stelle zu kündigen und in den zwei Jahren bis zur Rente von meinen Ersparnissen zu leben." Sie wischte einen unsichtbaren Krümel vom Tisch. "Julia hat mit zehn Jahren entschieden, dass sie bei ihren Großeltern bleiben will, seither habe ich sie nur noch in den Ferien gesehen. Ich habe nicht miterlebt, wie aus dem süßen Pummelchen ein hübsches Mädchen und aus dem Mädchen eine attraktive junge Frau wurde. Inzwischen ist sie mit einem erfolgreichen Geschäftsmann verheiratet und die Mutter zweier Töchter, die ich auch nicht kenne. Wenn es noch ein Abenteuer gibt, das ich auf keinen Fall verpassen sollte, muss ich nur mein Single-Dasein aufgeben, um meine Tochter und meine Enkelinnen endlich kennenzulernen." Das musste genügen! Selbst ihrer Freundin wollte sie nicht auf die Nase binden, dass sie in letzter Zeit öfter als gewöhnlich an Walli gedacht hatte.

"Bist du sicher, dass du nicht einfach dein Single-Dasein aufgeben und nach dem passenden Mann zum gemeinsamen Altwerden suchen solltest?"

"Ich soll mir einen Mann suchen? Ist das dein Ernst oder willst du eine alte Frau veräppeln?" Manne lachte schallend. "Die letzten ernsthaften Versuche habe ich gemacht, als ich in deinem Alter war." Kopfschüttelnd winkte sie ab. "Aber Walli hat nicht mal gemerkt, wie sehr ich in ihn verliebt war."

"Wer ist denn dieser Walli?", wollte Anja wissen. "Kenne ich den zufällig auch?"

"Walli war unser Schulleiter, als ich in der Herbert-Reichmeyer angefangen habe. Das war lange vor deiner Zeit." Sie zögerte kurz, entschied sich dann aber doch, die ganze Geschichte zu erzählen.  

"Walli hat für unsere Schule gelebt. Er hat dafür gesorgt, dass die maroden Werkstatträume renoviert wurden, und dass wir die Turnhalle des Gymnasiums nebenan mitbenutzen durften. Als uns eine Hausmeisterstelle gestrichen wurde, hat er nach Feierabend oder an den Wochenenden selbst Hand angelegt. In den Ferien hat er sogar Klassenräume gestrichen, wenn es nötig war. Die Feste bei ihm zu Hause waren legendär, und wenn jemand Hilfe brauchte, war Walli für uns da. Mir hat er dabei geholfen, mein Hochbett zu bauen, und Fritz hat drei Monate bei ihm im Gästezimmer gewohnt, weil seine Frau ihn vor die Tür gesetzt hatte."

"Was hat Wallis Frau dazu gesagt?"

"Walli war nicht verheiratet, sonst hätte ich mich garantiert nicht in ihn verliebt. Er hat immer von einer Jugendliebe namens Barbara erzählt, die er suchen gehen wollte, sobald er pensioniert wäre."

"Und? Hat er sie gefunden?"

"Er kam nicht mehr dazu, sie zu suchen. Weil kein anderer Schulleiter für unsere Berufsschule gefunden wurde, ist er länger geblieben. Zuerst hat er ein Jahr angehängt, dann noch eins und noch eins. Als sie ihn mit siebzig endlich doch in den Ruhestand schicken mussten, ist er wegen irgendwelcher Magenbeschwerden zum Arzt gegangen. Der hat ihn ins Krankenhaus geschickt. Die haben festgestellt, dass er Bauchspeicheldrüsenkrebs hatte. Sechs Wochen später war er tot."

"Meine Güte, wie schrecklich." Anja presste beide Hände auf den Mund.

"Ich glaube, er fand es gar nicht schrecklich. Ich hab ihn noch mal im Hospiz besucht, da hat er gesagt, dass für ihn alles so passt, und dass es gar keine Barbara gibt."

"Wenn Walli deine große Liebe war, kann ich verstehen, dass du es lieber mit deiner Tochter probierst. Sag mal ..." Ein Lächeln erhellte Anjas Gesicht. "Soll ich dich bei deinem Familien-Abenteuer unterstützen? Ich kann dir helfen, den unerlösten Kram auszuräumen, der zwischen euch steht."

"Wie willst du mir denn dabei helfen?"

"Ich könnte dich coachen. Ich mache doch die Ausbildung zum systemischen Familiencoach. Solche Geschichten sind genau unser Thema. Wir hören uns an, was unsere Klienten in ihren familiären Beziehungen belastet und helfen ihnen, ihre Stresspunkte in einem neuen Licht zu betrachten. Meistens braucht es gar nicht mehr, um die Beziehungen nachhaltig zu verbessern."

"Hm ..." Manne zog ihre Stirn in Falten. "Ich weiß nicht, ob ich mir so ein Coaching überhaupt leisten kann."

"Wenn ich deine Fallgeschichte für meine Ausbildung verwenden darf, kostet dich das gar nichts."

"Und wie soll das gehen? Du bist in Köln und ich in Sisselsheim."

"Mit einer fremden Klientin würde ich das gar nicht erst versuchen, aber wir kennen uns gut genug, dass wir es mit einem Telefon-Coaching probieren können. Hast du schon eine Adresse und eine Telefonnummer, unter der ich dich erreichen kann?"

"Überraschung!" Manne ging zur Garderobe, kramte ein flaches Kästchen aus der Innentasche ihrer Motorrad-Jacke und ließ es aufklappen. "Julia hat mir ihr altes Smartphone geschenkt und ein WhatsApp-Konto eingerichtet."

"Ich glaub's nicht." In gespieltem Erstaunen riss Anja die Augen auf. "Manne Sollinger ist endlich im einundzwanzigsten Jahrhundert angekommen. Wenn du jetzt den Eingang in die moderne Welt der Kommunikation gefunden hast, kannst du eigentlich auch hierbleiben, und deine Enkelinnen beim Chatten kennenlernen. Die jungen Leute machen das heute alle so."

"Nee, lass mal gut sein." Lachend schüttelte Manne den Kopf. "Morgen früh um neun kommt mein Schwiegersohn mit seinem Transporter. Er bringt die Mädchen mit. Ich habe ihnen nämlich versprochen, dass wir noch eine Abschiedstour durch Köln machen, bevor wir die Kisten, meinen Sessel, den Futon und mein Moped einpacken und Kurs auf Sisselsheim nehmen."

den Eingang in die moderne Welt der Kommunikation gefunden hast, kannst du eigentlich auch hierbleiben, und deine Enkelinnen beim Chatten kennenlernen. Die jungen Leute machen das heute alle so."

"Nee, lass mal gut sein." Lachend schüttelte Manne den Kopf. "Morgen früh um neun will mein Schwiegersohn mit seinem Transporter kommen. Er bringt die Mädchen mit, und ich habe ihnen versprochen, dass wir eine Abschiedstour durch Köln machen, bevor wir die Kisten, meinen Sessel, den Futon und mein Moped einpacken und Kurs auf Sisselsheim nehmen."

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